Lesestoff


Geistertöne

Math-Rock, Post-Jazz und Slow-Core - Christoph Wagners spannende Exkursionen eine Welt abseits des musikalischen Mainstreams

Für die neueste Ausgabe der Schott-Reihe "Neue Zeitschrift für Musik" hat Christoph Wagner unter dem Titel "Geistertöne" eine Sammlung zum Teil schon veröffentlichter Interviews und Essays vorgelegt. Auf 170 Seiten verlässt er die "Trampelpfade des Mainstreams" und begibt sich ins "Reich der Zwischentöne" (O-Ton Wagner). Man muss sich Zeit nehmen für dieses Buch, sich einlassen auf den unorthodoxen Ansatz der musikalischen Protagonisten, die hier vorgestellt werden. Hat man sich mal eingelesen, taucht man ein, in eine Welt voller Visionäre, Musikforscher und Grenzgänger.

 

 Christoph Wagners Interviews gehen in die Tiefe. Er schafft es, mit Einfühlsamkeit für die Lebensgeschichte seines Gegenübers und mit viel Fachwissen, noch nicht bekannte Details aus den Künstlerbiografien der Interviewten heraus zu kitzeln. So erfährt man beispielweise viel Neues von Can-Drummer Jaki Liebezeit und Christian Burchard, dem jahrzehntelangen Bandleader von Embryo. Im Kapitel "Der Eremit von Louth" nimmt sich Wagner der Lebensgeschichte von Robert Wyatt an, der bei Soft Machine in eine weltweite Karriere als Rockdrummer startete, die 1973 dann aber durch einen  üblen Fenstersturz bei einer Party jäh gebremst wurde. Querschnittsgelähmt gelang dem heute 76jährigen eine zweite Laufbahn als subtiler Songschreiber, der sich nicht kategorisieren lässt und mit unterschiedlichsten Studiogästen besonders gerne neue Klangwelten erkundet.    

 
 Hochinteressant gestaltet sich auch das Feature über Moses Asch, der zwar mit dem von ihm gegründeten Schallplatten-Label "Folkways Records" Musikgeschichte geschrieben hat, aber dennoch recht unbekannt geblieben ist. Das Spektrum der 2168 Veröffentlichungen von „Folkways Records“ umfasste nicht nur musikalische Genres wie Roots-Music, Blues, Gospel und Folk, es reichte auch von Mitschnitten diverser Reden bei politischen Demonstrationen, über Aufnahmen aus der Tierwelt, bis hin zu akustischen Dokumentationen von besonderen Naturereignissen. Das im Jahr 1949 gegründete Label konnte sich auf ein weltweites Netz an Mitarbeitern verlassen, die diese "Feldaufnahmen" zu Moses Asch schickten. Auch Christoph Wagner unterstreicht in seinem informativen Text zu dieser einmaligen Geschichte, dass der studierte Radioelektroniker aus New York City sein Label als "Klangarchiv der Menschheit des 20. Jahrhunderts" verstand.

Jaki Liebezeit und Christoph Wagner beim Interview im Sommer 2013 im Alten Schlachthof in Sigmaringen. Anlass war ein Duo-Konzert des Can-Drummers mit Joachim Irmler von Faust. Foto: Birgit Bender
Jaki Liebezeit und Christoph Wagner beim Interview im Sommer 2013 im Alten Schlachthof in Sigmaringen. Anlass war ein Duo-Konzert des Can-Drummers mit Joachim Irmler von Faust. Foto: Birgit Bender

 Hier wurden nur vier von den 18 genreübergreifenden Essays und Interviews angerissen, die Christoph Wagner für "Geistertöne" ausgesucht hat. Unter anderem macht man auch Bekanntschaft mit dem tiefen- entspannten "Slow-Core" der US-Rockband Low, taucht mit Saxophonist John Tchicai in die New Yorker Jazzszene der frühen 60er-Jahre ein oder liest viel über experimentelle Musik von Künstlern wie Meredith Monk, dem Kronos Quartet oder Marshall Allen (Sun Ra Arkestra). 

   
 Die letzte Erkenntnis aus diesem Buch ist vielleicht die Wichtigste. Jede Art von Musik hat ihre Berechtigung und scheint sie noch so oberflächlich und banal! Als Robert Wyatt nach seinem Sturz aus dem Fenster ein Jahr lang im Krankenhaus behandelt wurde, lag ein sehr schwer verletzter Junge neben ihm, der täglich mit Kopfhörer Musik hörte. In seiner Not klammerte dieser sich an eine Cassette mit Country-Songs – "um sein Leben zu retten", wie sich Robert Wyatt sicher ist: "Und jedem der meint, dass Countrymusik keine 'ernste' Musik sei, dem hätte ich gerne diesen Jungen gezeigt."   

 


Christoph Wagner
Geistertöne – Gespräche über Musik jenseits der Genregrenzen
Schott Music, Edition neue Zeitschrift für Musik,

170 Seiten, ISBN 978-3-7957-8699-1

 

 

 

Miche Hepp